Witwe Bolte

Witwe Bolte

Er war nicht ihr erster. Aber der erste, der in ihrem Wohnzimmer tot auf dem Sofa lag. "Mein Verlobter", so hatte sie ihn damals bei ihren Eltern eingeführt, das war ironisch gemeint, aber die merkten es nicht oder wollten es nicht merken. Vier Jahre war das her. Sie hing an ihm. Sie hätte ihn gern schwören lassen, daß er sie nie verließe.

Beim Lauftreff hatten sie sich kennengelernt. Laufen war auch das letzte Gemeinsame. Das mußte sie freilich teilen mit der neuen Trainerin, die hatte eine Tempo-Gruppe angeboten. Er war sofort dabei und vorneweg. Dann konnte er nicht mehr, Schwindelgefühl, Stiche im Leib, beinahe eine Ohnmacht. Besser, sie fuhren vorzeitig nach Hause, ihr war es recht, so konnte sie noch einmal ins Büro. Er legte sich hin.

Sollte nicht wieder aufstehen. Der Notarzt horchte auf ein stilles Herz, weder Atmung noch Puls, lichtstarre Pupillen, die Haut hinten schon ein bißchen lilafleckig; also keine Klinik mehr. Er griff nach der dicken Kissenrolle auf der Sofalehne und schob sie unter den Kopf, bat um ein Handtuch, faltete es fest zusammen und stützte damit das Kinn vor dem Herunterfallen, schließlich deckte er den Körper vorsichtig zu.

Sie schaute mit geweiteten Augen. Eine Kerze, dachte sie, jetzt muß da eine Kerze her. Schließlich tat es ein rotes Adventslicht vom letzten Jahr, oben zwei Finger breit heruntergebrannt, unten das Rot schon aufgesprungen. Vorsichtig entzündete sie den Docht, tropfte ein paar Flecken Wachs auf eine Untertasse und drückte mit ihren kräftigen Händen die Kerze in die weiche Masse.

Entschlossen öffnete sie den Schreibschrank und holte das einzige Fotobuch heraus, das er angelegt hatte. Ein Reisetagebuch. Im letzten Jahr hatten sie wenig Geld, sie waren an die See gefahren mit einem gemieteten Wohnmobil. Jeder hatte sich im Stillen ein bißchen geschämt für so einen schlichten Urlaub, von dem es nichts zu erzählen geben würde, noch nicht einmal einen ordentlichen Sandstrand fand man.

Aber einen Himmel wie auf den Ansichtskarten am Kiosk, auf ihm schweben Wolken, denen sie Tiernamen geben. Und dann gesteht er eines Morgens, daß er gerne einen Papierdrachen bauen würde, wenn sie einmal Kinder hätten. Zwischen Mohnbrötchen und Himbeergelee passiert das und es klingt ihr wie ein Heiratsantrag.

Viele Tage laufen sie ins Watt hinein, beim ersten Mal in Stiefeln, die sich festsaugen im Schlick, sie kämpfen mit Schweißperlen auf der Stirn gegen den Untergang, werden zu einem zünftigen Schlammbad begnadigt, in dem sie sich innigst umarmen. Die Folge ist eine knackige Kruste, "wie bei Max und Moritz aus dem Bäckertrog", lacht er; auf dem Heimweg plaudern sie über alle Streiche der beiden, die sie aus dem Album kennen. Barfuß gehen sie die anderen Male los, ohne Rutschpartien. Es gibt Fotos von Schafen ganz nah und von Schiffen in der Ferne, man sieht Sandrippel am Priel und eine Lachmöwe auf einem Bein stehen und dann natürlich die vielen Bilder von ihr. Sie lächelte sich zu, als sie das Foto aufblättert, das sie unbekleidet zeigt, aufgestellt wie eine Schaufensterpuppe. Von ihm hatte sie auch so ein Foto gemacht, aber das war nicht ins Buch gekommen.

Sie findet auch den Leuchtturm - an einem glasigen Spätnachmittag lassen sie sich an seinem Sockel nieder, verzehren das einzige mitgebrachte Fischbrötchen gleichzeitig von beiden Seiten und trinken aus einem gemeinsamen Becher Rotbuschtee, den die Thermoskanne warm gehalten hat, küssen sich zum Abschluß länger als sonst in der Öffentlichkeit. Die Öffentlichkeit besteht aus zwei Fahrradtouristinnen, die hinter den Heckenrosen in ihren Packtaschen wühlen. Schließlich doch noch eines der seltenen Fotos von ihm, er strahlend neben der offenherzigen Seeräuberbraut vor dem Fischlokal.

Sie legte das Buch weg, preßte die Handflächen aufs Gesicht. Sie stand auf, fixierte einen fernen Punkt, atmete mit dem Bauch, um sich zu beruhigen. Was ihr nicht gelang. Die Bilder begannen in ihr zu jagen. Ein Stummfilm, nur überall schrie es: "Warum hast Du mir das angetan?" Drei, vier Atemzüge zögerte sie, dann trat sie entschlossen ans Sofa. Sie hob ihr Hand und schlug ihm ins Gesicht. Es klatschte teigig und die Finger hinterließen Striemen auf der Haut; der Unterkiefer klappte weg, ein schmatzendes Geräusch kam aus seinem Kehlkopf. Einen Moment noch horchte sie mit geschlossenen Augen, dann blies sie die Kerze aus, zog sich an und ging nach unten auf die Straße. Auf dem Bürgersteig zuckte es in ihren Knien und sie begann zu hüpfen von Steinplatte zu Steinplatte und auf einmal sagte sich in ihr ein Vers auf aus der Kinderzeit: "Seht, da ist die Witwe Bolte, die das auch nicht gerne wollte." Immer wieder und immer wieder.

©  hertz