Späte Braut

Das Meer spielt in uns

Nur hereinspaziert, lass dir die Wange küssen. Endlich hat dich die Fähre zu mir gebracht! Die Umarmung ziehe ich um drei, vier Pulsschläge länger hinaus, als es der Anstand erlaubt. Auf Anstand hattest du immer viel Wert gelegt. Am liebsten möchte ich dich umfassen. Mit meiner rechten Hand wie absichtslos unter deine Jacke fahren. Den feinen Stoff deiner Bluse mit den Fingerkuppen fühlen. Macht man nicht gleich bei der Begrüßung. Ob du ein Mieder trägst? Vermutlich nicht, sagt mir mein männlicher Sachverstand. Damals freilich schon, deswegen knisterten in jenem Sommer an der Ostsee schwitzige Lycra-Träume durch meine Nächte.  Einen gemeinsamen Paar-Urlaub mit euch gab es nie wieder. Vielleicht gut so. Was ich mich gerade noch traue: freundschaftlich über dein Haar zu streichen. Nicht mehr so braun wie damals. Gewiss gefärbt. Laut aber sage ich nur: „Deine Haare haben mir immer gefallen.“

Sie benutzt einen Gehstock – so kennt er sie nicht. „Warte, ich helfe dir,“ sagt er. Sie deutet an, dass die Knie das Problem sind, es schon vor Jahren waren, deswegen gab sie ihren Squaredance auf. Eine Operation hat sie bisher abgelehnt. Der Mann dirigiert sie aufs Sofa, so dass er neben ihr sitzt. Die Frau erzählt von der Herfahrt, von der Verspätung bei der Bahn, vom rüden Ton auf der Fähre, von ihrer Mühe, eine Taxe zu bestellen. Es gibt nur eine einzige für die gesamte Insel, staunt sie. Der Mann nickt, einer im Nebenberuf fährt sie, er ist in der übrigen Zeit Landwirt, arbeitet bei den Eltern. Es folgen ein paar Sätze über das Heim und das Wetter. Die Unterhaltung stockt. Das Kaffeekochen hat er am Automaten in etwa nach der Fähre eingestellt, müsste fast fertig sein.

Du knöpfst deine Jacke zu. Ist es dir überhaupt warm genug? Das Thermometer zeigte vorhin 22 Grad, ich habe es dauernd überprüft. Ich erinnere, dass bei euch immer die Heizungen für dich hochgedreht wurden. Über den Karamellton deines Jankers sage ich besser nichts, die edlen Jeans gefallen mir. Du hast dich immer schon gern nach der Mode gekleidet.

Die Frau schaut sich um, das Geschirr scheint sie wiederzuerkennen. Kaffeegedecke mit Heckenrosenmuster und die passenden Kuchenteller dazu. „Von eurer Rosenhochzeit, nicht wahr?“ Der Mann nickt, erzählt, wie sie Laden um Laden dafür abklapperten. Ihr fällt ein, als zum Hochzeitstag der Kranz gebunden wurde, war auch ihr eigener Mann mit dabei. Dann schaut sie auf das Bild über dem Fernseher, eine rote Backbordtonne, losgerissen in rauer See. Sie weiß, wo es früher in der Wohnung des Mannes hing, so manches Mal, wenn die Paare sich besuchten, saß sie Auge in Auge mit dem Gemälde, ein stimmungsvolles Seestück. Der Mann sagt, dass ihm das Bild nach wie vor viel bedeutet.

Du dagegen mochtest nur Sonnenstrände, verzeih‘ wenn ich so weit zurückgehe, meine Phantasie brachte es nie zustande, mich und dich Seite an Seite auf dasselbe Badelaken zu legen. Ans Wasser, dorthin fuhr ich immer doch lieber mit meiner Frau, sie ist nicht mehr, Krebs, vor vierzehn Jahren schon, du hast eine Traueranzeige bekommen. Wir liebten die See auf unsere Weise, gern hinter der letzten Lahnung, weitab von Eiswagen und Strandkörben, nur Muscheln und Treibsel. Deine See – das waren eher sanfte Strände an der Adria. Da lerntest du deinen Mann kennen, er im Wohnwagen-Urlaub mit seinen Eltern, du im Wohnwagen-Urlaub mit deinen Eltern. Auf eurer Silberhochzeit gab es einen humorvollen Beitrag deiner Schwägerin, sie erwähnte, wie ihr Bruder dir  lange den Hof machte nach alter Sitte, was deinen Eltern imponierte. Als Trophäe schleppte er dich geziemende Monate später ab. Den Gästen zeigtest du selbstverliebt das passende Foto aus dem Hochzeitsalbum. Du im blütenreinen Taftkleid, er trägt dich auf Händen, im Hintergrund ein feiner Sandstrand. Eine heiße Welle breitete sich in meinem Inneren aus, ich wagte kaum hinzugucken, dann reichte ich das Foto schnell weiter.

Es sprüht und zischt nicht mehr, der Kaffee ist fertig. Die Sandwiche hat er vom Bäckerwagen, der täglich das Heim beliefert. Wenn man sich versteht, bringt der Fahrer mal eine private Bestellung mit. Nein, hier kann man nicht backen, darf man nicht. Schade. Wäre zu gefährlich, sagen sie. Die Frau ist immer noch auf Vollkorn, das erinnert er richtig. Sagt sich, dass wir uns in manchen Dingen überhaupt nicht mehr verändern. Er sorgt sich um ihre Bequemlichkeit, steht auf, holt ein Kissen für ihren Rücken. Nutzt die Gelegenheit, sie anzufassen. Die Schultern hatte er sofort an ihr gemocht, Schultern einer großen Frau, wie bei seiner Mutter. Sie kommen sich beim Kaffeetrinken ins Gehege, die Frau entschuldigt sich. Der Mann schüttelt den Kopf, soll heißen: Kein Problem, ich habe es doch so gewollt, dass wir uns ab und an berühren.

Das Gespräch kommt aufs Sterben. Ihr Ehemann zuerst und später die einzige Tochter, mit dem Auto im Nebel, hatte keine Schuld, scheußlich. Ja, der Mann war doch auf den Beerdigungen, hat sie das vergessen? Schweigen für einen Moment. Der Mann ist an der Reihe. Was soll er mitteilen? Der Tod ging in den letzten Jahren vorbei an seinen Leuten. Also gut, Weihnachten war er im Süden bei der Tochter, die einen Medienmenschen geheiratet hat. Nur kurz, die haben kaum Zeit, fliegen dauernd für die Firma nach Asien. Die andere Tochter ist irgendwie solo, lebt mit einer Frau zusammen. „Und selbst?“, fragt die Frau. „Warum bist du im Heim? Du siehst doch fit aus.“ Der Mann räuspert sich, sagt, dass er ins betreute Wohnen wollte. „Ich hab ja keinen sonst, der nach mir guckt. Aber dann ist noch was dazu gekommen, was Inneres.“ Er verstummt.

Beim Thema Krankheit wird es mir unbehaglich. Lieber erzählte ich, dass Wärme in mir aufgestiegen ist, seitdem du mit mir hier im Sofa bist. Ich könnte das kleine Glück meiner Lenden erwähnen, schon vorhin bei der Umarmung. Deine Trachtenjacke mit glänzenden Hornknöpfchen hängt locker über einer brautfarbenen Bluse, darunter, eingerahmt von duftiger Spitze, dein feminines Barock, wie bei den alten Malern. Ein zarter Hauch entschwebt deinem Dekolleté, werde ich bis ans Grab nicht vergessen. Das Plätschern des Kaffees in deinem Leib ist nicht zu dämpfen. „Horch nur, das Meer spielt in uns.“ Du siehst gewiss, wie der Schalk dabei in meinen Augen aufblitzt, denn du empörst dich nicht wegen der Anspielung. Ich mag das, wenn deine Fältchen zum Lächeln werden wie jetzt.

 

Das Klappern auf dem Flur ist unüberhörbar. Es klopft und im selben Augenblick wird schon die Tür aufgerissen. „Oh!“, sagt die Frau im Kittel. „Ich will nicht stören. Aber das Abendbrot nicht vergessen!“ Knall. Der Mann eilt zur Tür, nimmt den Schlüssel vom Haken und schließt ab. Hinter ihm im Zimmer ein feines Rascheln. Denn dort wird in diesem Augenblick eine Trachtenjacke im pastellenen Karamellton achtsam über die Lehne gebettet. Und eine faltige Frauenhand nestelt bedächtig an ihrer Bluse.

Schluss mit lustig

Ja, ich habe ihn öffentlich geküsst. Zum Abschied. Er sagte, man müsse aufpassen. Ob er nicht übertreibt? Es ist doch niemand da im Speiseraum. Wir haben die Terrassentür hochgehebelt, dann sind wir in die Dämmerung hineingestolpert, ich gekrümmt, auf meinen Stock gestützt, wie eine Hexe aus den Märchen. Er hinter mir her, behänder als ich dachte. Wie Kinder in einem Räuberspiel ducken wir uns unter das Fenster vom Stationszimmer, in bläuliches dünnes Licht getaucht, jemand sitzt vor dem Computer, interessiert sich nicht für uns, obwohl ich einen Zinkeimer auf der Terrasse umwerfe, scheppernd rollte er über die Betonplatten. Hinter der Hecke wartet das Taxi. Welch ein Glück, dass wir es erst zur letzten Fähre brauchen. Zwischen fünf und sieben gibt‘s keine Taxe. Dann nämlich bückt sich der Fahrer unter die Kühe am Melkstand, im Hauptberuf ist er Jungbauer. Er steigt aus, die beiden Männer helfen mir in den Wagen. Mein alter Mann aus dem Heim drückt mir sanft den Arm. Adieu ruft er leise. Ich zucke zusammen, als der alte Mercedes pochend startet. War in Gedanken noch immer beim seinem Adieu, „mit Gott“. Hat vorher niemals ein Liebhaber zu mir gesagt. Gab‘s die im Plural? Kann sein zwei – außer dem einen, mit dem ich verheiratet war. Wie rechnet man das, ab wann ist einer Liebhaber?

Der Wagen schert abrupt aus, der Fahrer flucht: „Blödes Viehzeug, eine Seuche, man sollte doppelt drüber fahren!“ Mein Jungbauer erklärt, dass die Bisamratten eines Tages den ganzen Deich zerwühlen werden. Ich schaue auf die Borduhr, knapp zehn Minuten haben wir noch, dann legt die Fähre ab, das schaffen wir nicht. Wollte ich das schaffen nach diesem Abend? Im Hotel wird ein Zimmer frei sein. Und wenn nicht? Zurück ins Heim? Er ist nett. Ich kenne ihn seit Jahrzehnten. Ein freundlicher, vertrauter Mann, der mir schon seit langen Jahren Augen macht. Na und? Ich selbst blieb standhaft – halt, einmal bei einer Silvesterfeier eine gewisse Nähe, mehr als üblich. Und war dann nicht diese Reise, wir zwei Paare gemeinsam an die Ostsee? Spiele, Buddeleien, Ball-über-die-Schnur und immer ein paar harmlose Berührungen zu viel. Harmlose Berührungen? Jetzt müht er sich dauernd – dies ewige Hofieren ist gar nicht nötig. Er muss keine Gunst abarbeiten, ich bin gern gekommen. „Magst du mich nicht einfach mal besuchen?“, fragte er am Telefon. Ein Mann ruft eine Frau. Seine Lycra-Braut aber bin ich nicht. Hab ich ihm klar gesagt.

Sie sieht, dass ihre Jacke offen steht. Ein Hornknöpfchen fehlt. „Hoffentlich ist sonst alles da,“ denkt sie, „ich will nicht, dass er im Heim Ärger kriegt .“ Es wäre ihr peinlich, wenn sie von ihr was fänden. Sie tastet an sich herunter. Der Slip sitzt dort, wo er hingehört. Die Taxe hält an der Treppe zum Fährhotel. Der Jungbauer hilft ihr die Stufen nach oben, trägt die Tasche bis zur Rezeption, schlägt auf die Tischglocke und wartet mit ihr, bis jemand kommt. Sie wechseln ein paar Worte. Das Heim gefällt ihm nicht, ob sie plane, etwa dort zu wohnen? „Mich könnten keine zehn Pferde da rein bringen.“ – „Ich war nur zu Besuch,“ antwortet sie. Sie beißt sich auf die Lippe, unnötig das zu sagen, er hat sich doch längst seinen Reim auf diese Taxifahrt gemacht. Sie plaudern über das Wetter im Allgemeinen und dann im Besonderen, über Bullen und Bienen. Schließlich Schritte, ein junges Mädchen grüßt und kümmert sich um den späten Gast. Die Frau stützt sich mit den Ellenbogen auf den Tresen. Ja, da ist was frei. Frühstück bis zehn. Halbe Treppe hoch, Meerblick leider nein, das Fenster geht zur Straße raus. Die Frau nickt dem Taxifahrer zu, drückt ihm ein Geldstück in die Hand. „Fürs Bringen.“

Zum Glück habe ich ein paar Sachen eingepackt, falls ich doch übernachten muss, Waschzeug, Pyjama, frischen Slip, leichten Pullover. Man weiß ja nie. Erst mal das Fenster aufmachen, Seeluft klärt die Gedanken. Immer im Heim, das hielte ich nicht aus, wie das da riecht. Also, er hat ein Foto von mir, heimlich vergrößert aus dem Bild von Magdas Konfirmation, wo wir alle drauf sind. Ich habe damals anmutig ausgesehen in dem hellgrünen Kostüm, eine Frau, an der man nicht grußlos vorbeigeht. Guckt er sich etwa das Bild jeden Abend an? Und macht dann wer weiß was? Na ja, ist mir egal. Ist es mir doch nicht. Herrlich, so ein Badezimmer! Endlich unter die Dusche, langsam, mit einem Fuß zuerst, nein, es ist nicht rutschig. Im Heim hab ich mich nicht getraut zu duschen. Besuch, heißt es dort, nur bis acht, sonst erst im Stationszimmer melden. Ich wollte nicht fragen, ob fremde Damen nach acht duschen dürfen..

Sie ist fertig und schlüpft ins Bett, die Fenster bleiben offen, ihr Nachtgebet ist kurz und hat nur ein Thema. Sie liegt wach, eine halbe Stunde lang. Seufzend steht sie auf, ein paar Yogaübungen vor dem Nachthimmel helfen ihr meistens. Sie lehnt sich aus dem Fenster, als sie fertig ist, atmet tief die salzige Luft ein. Dann ihr Blick zu den Sternen, der Große Wagen, die Venus, sie zählt die Lichtpunkte des Orion.

Aber da ist etwas auf der Straße, unten an der Bank, eben hat es sich bewegt. Die Frau erschrickt. Da ist es wieder. So groß wie ein Mensch. Sie möchte jemanden zur Hilfe rufen, das Zimmertelefon, ist aber keiner mehr da in der Rezeption. Bloß ein Tier, beruhigt sie sich und zieht die Gardine vor. Schläft lange nicht ein.

Der Mann im Heim. Der Mann. Der.

Sie wälzt sich hin und her. Jetzt eine Schlaftablette. „Wo ist das Licht, verflixt noch mal, ich hab sie doch eingesteckt.“ Sie wühlt in ihrer Handtasche, kippt den gesamten Inhalt auf den Teppichboden, findet das Döschen, schluckt eine winzige gelbe Pille ohne Flüssigkeit. Sie verspürt ein Würgen im Hals, Wasser im Zahnputzglas bringt Erleichterung. Die Frau räumt die geräumige Handtasche wieder ein, sucht nach einem Armkettchen, an dem ein winziges Medaillon hängt, mit dem Bild ihres verstorbenen Mannes. Der Verschluss hat nicht standgehalten, das Kettchen ist ihr abgefallen, es wird im Heim liegen. Sie runzelt die Stirn. Obwohl die Tablette noch nicht gewirkt haben kann, fühlt sie sich besser. Sie tritt erleichtert ans Fenster. Ein mattes Leuchten zwischen Himmel und Erde. Sie interessiert sich diesmal nicht für den Himmel, nur für die Erde. Wie ist das jetzt mit der Bank? Sie lehnt sich vorsichtig hinaus. Vorhin hat sich was bewegt, da ist sie sich sicher. Nur ein großes Tier? Unter der dünnen Jacke ihres Pyjamas frieren ihre Brüste. Sie schlüpft zurück ins Bett. Gegen Morgen kommen Träume, sie versucht sie aufzuschreiben, als sie in der ersten Dämmerung wach geworden ist:

Ein Geschirrwagen rasselt über die Holzdielen wie eine tibetische Gebetsmühle. Ich rufe meinen Mann an, er kommt nicht. Ich wünsche mir Berge von Blumen, ein junger Bauer bringt sie. Ich will aber nicht seine Hure sein und setze mich auf eine Bank. Ich suche meinen Stock. Da lacht der Pfleger und sagt, dass um acht Uhr Schluss ist mit lustig. Ich verschlucke den Knopf von meiner Trachtenjacke, nun habe ich nichts mehr an. Ich schaue nach draußen, da steht die Bank. Sie hat keine Farbe.

Schutzengel

So knackig wie in meinen Träumen ist sie nicht. Aber gut zu haben. Nicht so, wie das früher bei uns war, bevor ich Witwer wurde. Besser? Ich weiß nicht. Anders. Einmal haben wir gelacht, als die Knochen knackten – meine, in der linken Schulter. „Psst!“, bedeutete ich ihr mit dem Finger auf den Lippen. Immer an den Pfleger denken –  ich spiele die Gefahr bloß, weil es schön ist, Verbotenes mit ihr zu tun. Ein Glück, dass ich ihre Botschaft verstanden habe, als sie die Jacke auszog. Man weiß gar nicht mehr Bescheid. Im Fernsehen zeigen sie, wie das heutzutage läuft zwischen Männern und Frauen. Diese Ratgebergeschichten. Wie man damit im Heim klarkommt, das wissen sie nicht. Sie braucht also jetzt den Stock. Na ja, jeder trägt sein Päckchen. Von meinem kein Sterbenswörtchen, sie könnte sich erschrecken, dabei sieht man es mir gar nicht an. Zum Glück bin ich hin und wieder gut zu Fuß, erstaunlich sagen sie, sogar bis zum Anleger habe ich das schon geschafft, mit Pause auf der Bank vor dem Hotel. Ob sie mal wiederkommt? Und wann? Wie fragt man so etwas? Sind wir jetzt ein Paar? Oder ein Pärchen – nein, so heißt das bei Jüngeren. Ein One-Night-Stand?  Kenne ich durchs Googeln – nein, sie bleibt ja nicht über Nacht.

 

Der Mann erhebt sich, betätigt die Spülung, wäscht sich die Hände, richtet sich her. Im Spiegel schaut ihn ein müdes Gesicht an, aber die Augen, findet er, die Augen strahlen. Er benutzt sein Deo, dass er sich in langer Voraussicht selber hat besorgen lassen. Das Heim hat zwar einen Einkaufsdienst, aber er fürchtete das Gemunkel, wofür so ein alter Kerl sich auf der letzten Strecke auffrischen müsse. Er weiß, wenn er wieder ins Zimmer zurückgeht, ist die Zeit zum Verabschieden gekommen. Was soll er sagen? Wie soll er’s sagen?

Oh, du machst dich ja gar nicht fertig. Ich denke an die Fähre. Doch, die Taxe wird früh genug vorfahren, damit wir rechtzeitig da sind. Wie, nein, bitte nicht, ich räume nachher auf. Aber das Fenster können wir ja schon mal auf Kipp stellen. Genau, das müssen die ja nicht riechen, gut, dass du an so was Praktisches denkst, da fehlte mir immer jemand, der darauf achtet. Ich meine das Gefühl, weißt du, dass einer an den Sachen Anteil nimmt, die so anliegen. Du hast ja deine jüngere Schwester, die nicht weit weg wohnt. Und dann deinen Hund. Ich habe niemanden. Ein Tier darf man im Heim nicht halten. Muss man vorher abschaffen, Tierheim oder Gnadentod. Ob ich dich mal besuchen dürfte? Irgendwann einmal? Nein, „irgendwann“ wäre unehrlich. Ich brenne darauf, dass es zwischen uns weitergeht. Es kann nicht zu Ende sein, so hör doch. Ich habe keine Chancen mehr, nur diese eine. Du bist meine letzte Chance. Bitte, nimm es mir nicht übel, aber so steht es um mich. Klar will ich nett sein, dich nicht bedrängen, mein Herz bloß ein bisschen ausschütten. Ich sage laut: „Möglichst bald möchte ich dich besuchen.“ Wie, du jubelst nicht, musst erst mal sehen? Was musst du denn sehen? Ach so, deine Schwester, die hätte vermutlich was dagegen. Ist das etwa deshalb, weil sie seit Kurzem frömmelt, wie du erzählt hast? Nicht nur das, aha. Hast du Angst wegen der Leute überhaupt? Ja, ich soll dir Zeit lassen. Verstehe. Ich versuche es. Aber sei beruhigt, für den Weg zu dir habe ich ja keine Kraft mehr. Und sie würden sowas nicht erlauben. War ja nur so ein Gedanke.

 

Ein Blick auf die Uhr. Schweigend rückt der Mann dies und das zurecht, dann auch ein zweites Mal.  Sie packt ihre Reisetasche, zieht sich an, vermisst ihre Schuhe, sie sind unterm Bett. Irgendetwas fehlt ihr, sie weiß nicht was. Der Mann ist schon fertig. Er verspricht, später alles zu durchsuchen. Sie gucken sich flüchtig an, nicken sich zu. Sagen fast gleichzeitig: „Gehn wir!“ Der Mann öffnet die Zimmertür, späht den Flur entlang, erst rechts, dann links, dann wieder rechts; rechts um die Ecke liegt das Stationszimmer. Niemand. Alles still. Im leeren Speisesaal küsst sie ihn zum Abschied. Es ist schon allgemeine Bettruhe, man hat auf seinem Zimmer zu sein. Keine Zuschauer. Dabei hätte der diesen Kuss gerne allen gezeigt. Der Mann besteht darauf, dass ihr Tun gefährlich sei.  So huschen sie wie Diebe durch den dunklen Garten, nur nicht so hurtig, eher lendenlahm, und verschwinden hinter der Hecke. Die Standlichter der Taxe zeigen ihnen ihr Ziel. Vor dem Einsteigen schauen sich beide in die Augen, die Frau stützt sich auf ihren Stock, nickt andächtig, der Mann probiert ein gewinnendes Lächeln; die Frau sieht, dass er dem Heulen nahe ist. Trotzdem schafft er es, „Adieu“ zu sagen.

 

Sie fährt dahin. Hoffentlich erkältet sie sich nicht, man braucht nachts doch schon was Wärmeres am Leib. Ich würde was drum geben, wenn sie auf der Insel bliebe, noch ein paar Stunden, noch eine Nacht. Ich bete, dass ist die Fähre weg ist, wenn sie ankommt. Sie muss weg sein. Das Hotel ist im Herbst nie ausgebucht, erzählen die Leute. Sie wird dann dort ins Halbgeschoss ziehen, wo die Zimmer sind. Entweder zur See raus und zur Straße hin. Ich werde sie beschützen. Es passiert doch so manches. Eher auf dem Festland, ich lese so allerlei, man kann ja nie wissen. Der junge Bauer – nein, den kenne ich, der wird ihr nicht zu nahe treten. Netter Bursche. Nur das Heim gefällt ihm nicht, ginge er nie rein, ich habe mich mal mit ihm unterhalten, als er unten am Anleger auf einen Fahrgast zu warten hatte. Eine Frau so alleine auf der Insel, das ist nichts. Sie braucht einen Schutzengel.

 

Der Mann fühlt sich berufen, auf die Frau acht zu geben. Stiefel und eine warme Jacke hat er schon an. Die Zimmertür bleibt eben offen, egal was die Spätschicht denken wird, er geht nicht noch einmal zurück. Er traut sich einen Fußmarsch zu. Zum Anleger dauert es eine halbe Stunde, bei Dunkelheit etwas länger. Die schmale Straße ist asphaltiert, die hereinbrechende Nacht hell. Ein paar Vögel weckt er auf, ein Fuchs läuft vor ihm ins Reet hinein, sonst passiert nichts. Die Füße schmerzen, als er vor dem Hotel ankommt. Da ist die Bank, auf der er gelegentlich ausruht, seine Bank in dieser Nacht. Er wendet den Kopf zu den Zimmerfenstern des Hotels. Eins ist erleuchtet. Er freut sich. Es ist ihr Zimmer, ohne Zweifel. Genau hier wird er auf der Hut sein, dass ihr nichts zustößt, bis zum Morgengrauen. Da, ihr Umriß erscheint im Fenster, sie guckt in den Himmel – und dann in seine Richtung. Er gefriert augenblicklich, ein lebloses Etwas auf der Bank. Sie tritt zurück ins Zimmer, dann offenbar legt sie sich hin. Eine halbe Stunde später wieder Licht aus der Etage. Sie öffnet das Fenster und macht Gymnastik, dann schaut sie wieder hinaus, lehnt sich ein wenig nach draußen. Der Mann rutscht von der Bank und lässt sich ins Gras fallen, um nicht entdeckt zu werden. Sein Steißbein schmerzt höllisch, er beißt die Zähne zusammen. Langsam erhebt er sich, sitzt wieder auf der Bank. Im Hotel ereignet sich nichts mehr, die ganze lange Zeit, in der er wacht. Er könnte Sterne gucken. Aber mit dem Himmel kennt der Mann sich nicht aus, außer mit dem Großen Wagen, den lernt jedes Kind kennen. Im Übrigen nur die Satelliten, die flink ihre Bahn ziehen.

 

Sie schläft... Ich wache über sie, wenigstens das. Kann sein, dass sie es spürt, so was spürt man, wenn man sich nahe ist. Bin ich ihr nahe? Ist sie mir nahe? Als ich Konfirmand war, gab‘s einen, das war unser Siggi, der war wild nach einem Mädchen, eine Gerlinde oder Rosalinde. Egal, wir riefen sie Lindi. Sie wollte ihn nicht, da fing er an, jeden Abend vor ihrem Haus zu stehen, jeden Abend.

Ich beginne zu frösteln, ich will mich bewegen, dumm, mir fehlt die Mütze. Meine altmodische Strickmütze, von meiner Frau, ich halte sie in Ehren. Ich finde, jetzt habe ich genug gewacht vor ihrer Tür. Ich möchte mal wissen, wie viele Männer das für sie getan haben. Keiner, wette ich. Ungehobelte Burschen. Die haben sie gekriegt für nichts. Ich hole mir hier noch den Tod, ich muss schnell ins Heim zurück. Besser, ich nehme nicht wieder die Straße, das dauert zu lange. Ich schlage mich auf dem Trampelpfad durchs Schilf. Nur der Sielzug ist ein Problem. Es gibt einen Steg für Fußgänger, doch das wäre ein Umweg. Am einfachsten über die Planke an der engen Stelle, wo der Sturm eine Erle gebrochen hat.

 

Der Mann schaut zum Fenster hinauf, die Scheiben sind schwarz, da fällt der Aufbruch ihm leichter. Beim Rückweg finden seine Füße den Pfad, das Reetgras raunt, wenn der Wind vom Meer her hindurchstreicht. Der Boden ist trocken, der Mann ist trittsicher, aber der Rücken schmerzt vom Sturz, deshalb strauchelt er ein, zwei Male. Vorsichtig tastet er sich an den Sielzug heran, steht dort eine Weile und beobachtet. Es ist Flut, das Wasser steigt an.

 

Im fahlen Licht liegt das dicke Brett. Es gluckst das Wasser. Einen Fuß auf die Planke, dann den anderen, sie trägt. Alles scheint leicht. Wie Balkenlaufen in der Schule.

 

Die Erle wispert so rot: „Mien Brögam, nu kumm!“ Der Mann tut‘s.

 

Die anderen ins Wasser

Kurz nach sechs, geschlafen habe ich kaum. Die Tablette hat nichts genutzt. Meine Traumbilder habe ich aufgeschrieben. Viele Rätsel. Ich glaube, ich bin aufgewacht, weil ich immer an mein Kettchen denke. Das Medaillon. Das Foto, das man mit bloßem Auge nicht erkennt. Nur ich weiß, wer auf dem Foto zu sehen ist, das genügt. Ich kann keinesfalls ohne Kettchen abreisen. Ich muss unbedingt ins Heim. Oder erst mal anrufen. Die Zimmer haben sie Telefon, er hatte ja auch bei mir angerufen. Wenn das Gespräch erst bei der Hausvermittlung ankommt, könnte das heikel werden. Die Nummer ist ständig besetzt, ich wähle mir die Finger wund. Was ist bloß los? Was gibt es denn da stundenlang zu telefonieren?

Die Frau trommelt mit den Fingern auf den Tisch, kramt fahrig in ihrer Tasche. Die Bedienung fragt, ob sie helfen könne. Zum Heim? Nein, die Taxe hat heute einen Krankentransport aufs Festland. Aber sie bietet an, die Dame in einer halben Stunde kurz herumzufahren, „ist ja nicht weit.“ Erleichterung, sie verabreden sich. Die Frau lässt ihre Tasche im Hotel, für das Allerwichtigste reicht ein kleiner Beutel.

Im Heim herrscht helle Aufregung, es summt wie in einem Hornissennest. Im Büro hat man kaum ein Ohr für sie. „Ihr Kettchen verloren, wie denn?“ Sie beschreibt die Lage des Zimmers, die Nummer hat sie nicht parat. „Ich habe da einen Besuch gemacht.“ Die Bürofrau ist alarmiert, rennt raus, kommt mit dem Heimleiter zurück. Der begrüßt sie formlos, nennt die Fakten: Der Mann sei nachts aus dem Heim verschwunden und bisher nicht wieder aufgetaucht. Er bittet die Frau, ihm in sein Dienstzimmer zu folgen. Dort lässt sie ein Verhör über sich ergehen. Man habe in dem fraglichen Zimmer – „das übrigens sperrangelweit offen stand!“, tadelt er –  ein zerwühltes Bett vorgefunden, außerdem einen Hornknopf, wie er zur Trachtenmode gehört. Dabei fixiert er die Frau mit den Augen. Schließlich noch ein Kettchen mit Medaillon, das einer Dame gehören muss. Die Frau bekennt sich zu allem. Der Heimleiter macht sie darauf aufmerksam, dass sie gegen die Hausordnung verstoßen habe: Späte Besucher melden sich an. Ansonsten könne man natürlich frei kommen und gehen. „Dies ist ja kein Gefängnis.“ Zu Damenbesuchen intimer Art wolle er in diesem Fall nicht weiter Stellung nehmen.

Ich bin abgekanzelt wie ein kleines Kind. Zum Glück sparte er sich „Sie in ihrem Alter“, oder dass man sich schämen müsse. Er hat sichtlich keine Interesse an einer Diskussion. Wenigstens das verstehe ich. Ihn interessiert der Mann, der verschwunden ist, „meiner“, wie alle im Heim zu wissen glauben. Als der Heimleiter mir Knopf und Kettchen aushändigt, bittet er mich um meine Beteiligung an der Suchaktion. Das Technische Hilfswerk und die DLRG-Jugend hat er mobilisiert. Von mir erhofft man Auskünfte über sein Verhalten oder seine Gewohnheiten, die man für die Suche verwerten kann. Leider sei er nicht verwirrt, bemerkt der Heimleiter zum Abschluss. Ich verstehe nicht. „Die Verwirrten verlaufen sich, hocken dann irgendwo am Schafsgatter. Die anderen gehen meistens ins Wasser.“ Ich halte mich bereit, habe plötzlich trockene Schleimhäute, Reizhusten und einen Eisklumpen im Magen. Ich setze mich. Ich möchte irgendetwas tun, vielleicht etwas, das mit „lieber Gott“ anfängt. Jetzt nicht.

Einer vom THW bittet die Frau um ein paar Hinweise, die vielleicht die Suche erleichtern. Zum Beispiel ob er eher technisch interessiert ist oder lieber Vögel beobachtet. Die Frau weiß nichts, erzählt trotzdem dies und das, erfindet Teile seines Lebens noch einmal neu. Als sie ihre Fabulierkunst bemerken, halten sie das für Folgen eines Schocks und nehmen es ihr nicht übel. Die Frau schafft ohne Hilfe den Weg in die Küche, niemand ist dort, sie gießt sich einen Kaffee aus einer Thermoskanne ein, wechselt in den Speisesaal. Er ist nicht leer wie gestern Abend. Alle Augen starren auf sie, es hat sich herumgesprochen, wer sie ist. Sie steuert auf einen Tisch am Fenster zu, weit entfernt von den anderen, dort säße sie allein. Gemurmel begleitet sie, eine Rollstuhlfahrerin winkt ihr zu und lotst sie zu einem anderen Stuhl. Das ist der Stammplatz des Mannes, erfährt sie. Sie rührt inständigst in ihrem Kaffee, die Kaffeesahne hat sie vergessen. Plötzlich erhebt sich ein Raunen, der Heimleiter tritt ein, Stille folgt, nur ein paar Stimmen flüstern vernehmbar. Er nickt  der Frau auffordernd zu, führt sie in sein Dienstzimmer, schließt die Tür. „Wir haben ihn gefunden. Er lag im Sielzug, wenn Sie wissen, was das ist.“ Sie weiß es und nickt gehorsam. Ob sie ihn noch einmal sehen dürfe? Leider nein. Er wird zur Obduktion aufs Festland gebracht. Aber sie könne von der Freigabe zur Bestattung benachrichtigt werden, sie sei ja so eine Art Angehörige. Im Übrigen gebe es nur eine Tochter, lebt ziemlich weit weg. „Zwei Töchter“, verbessert die Frau.

Wenn ich eine Art Angehörige bin, will ich das gleich ausnutzen. Ob ich in sein Zimmer dürfe? Der Heimleiter zögert. Nur kurz, sage ich, bitte, um Abschied zu nehmen, wenigstens dort. Er nennt mir die Zimmernummer und fügt hinzu: Ich habe nichts gestattet, verstanden?! Hier ist der Flur, durch den wir geschlichen sind, um die Ecke herum das Zimmer, genau. Die Tür steht offen, ich tappe auf Zehenspitzen hinein, ziehe die Tür leicht ins Schloss. Ich steure auf den Schreibtisch zu und hole aus der obersten Schublade jene Mappe, aus der er das Foto geholt hatte, um es mir zu zeigen. Ja, es ist noch drin. Nicht in den Beutel, da würde es zerknicken. Vorsichtig schiebe ich die Bluse hoch samt Unterhemd und verstecke das Foto auf meinen Bauch. Zur Andacht reicht die Zeit nicht, ich höre männliche Stimmen auf dem Flur. Ich springe zur Tür und trete geschäftig hinaus, man grüßt mich, die Herren sehen amtlich aus und wollen ebenfalls zum Zimmer, sie halten ein Absperrband in der Hand.

Nicht in Schwarz

Drei Wochen später erhalte ich eine Nachricht vom Bestattungshaus, die Einäscherung habe stattgefunden. Sie teilen den Termin der Beisetzung mit und den Ort der Trauerfeier. Aus der handschriftlichen Anmerkung erfahre ich, dass die Tochter aus dem Süden einen Auftrag in Neuseeland hat und deshalb nicht dabei sein wird. Nur die andere Tochter mit Partnerin werde kommen. Man würde sich freuen, auch mich begrüßen zu können. Ich weiß sofort, dass ich keine schwarzen Sachen tragen werde. Schwarz steht mir überhaupt nicht. Was ich anziehe ist das, was ich bei meinem Besuch im Heim anhatte: Die helle Bluse mit dem Spitzenbesatz, darüber der Damenjanker. Der Hornknopf ist ja wieder dran. Nur den dünnen Wintermantel nehme ich zusätzlich mit, es ist kälter als vor vier Wochen. Ob jemand am Grab sprechen wird?  Ich werde auf jeden Fall was sagen: Adieu.

Prima

 

Fünf Sträuße. Es kommt auf die Menge nicht an. Ich sehe euch gerne bei mir sitzen. Respekt, mein Nesthäkchen, mit deiner Frau bist du gekommen, ich nehme zurück, was ich alles Schlechte über euch gedacht oder gesagt habe. Aber wo zum Kuckuck  ist denn die andere Tochter? Düst herum in der Weltgeschichte. Na, lass sie selig werden. In der zweiten Reihe mein Pfleger, gehört sich so, dass einer vom Heim kommt. Er hatte noch keine Arbeit mit mir, nur täglich die Methadon-Tropfen. Meine Lieblingsputzfrau neben ihm, ach, das rührt mich. Sie wusste immer ein munteres Wort für mich, ich hätte ihr glatt die Hälfte meiner Gesundheit vermachen können. Und neben meinem Nesthäkchen auf der anderen Seite sitzt du, meine Lycra-Liebe wolltest du nicht sein. Recht hattest du. Es war prima so, wie es war. Apropos, weißt du, dass ich vor deinem Hotelzimmer gestanden habe wie einst mein Kumpel Sigbert bei seiner Lindi? Ach so, die kennst du ja gar nicht.

© hertz