Wolfsangst

 

Wolfsangst

Dem Wolf eins in die Fresse. Machen sie dann doch nicht. Stattdessen greift der Große den schmächtigen Jungen am Kragen, kippt ihm was in den Rücken, stinkt nach Pisse. Sein Hosenboden wird feucht. Die beiden Jungs, die dem Breitschultrigen an der Bomberjacke kleben, feixen breit. Wolf gibt keinen Laut, schnappt seine Schultasche, stürzt aus dem Bushäuschen hinaus, er zieht eine Kleckerspur. Das Trio johlt. Der Große, sie rufen ihn Bobba, schreit ihm noch etwas nach, will hinter ihm herspurten. Zwei Mädchen hängen sich an seine Arme. „Nun lass ihn“, bitten sie. Er schüttelt sie ab wie lästige Krabbeltiere. Aber er lässt ihn.

Wolf rennt im Hasenzickzack, nimmt als Ziel einen Transformatorkasten weit vorne, lehnt sich endlich ans graue Metall, sackt zu Boden. Vom Rennen, geht es ihm durch den Kopf, das kommt vom Rennen, sagt seine Mutter jedes Mal, wenn er erzählt, wie sein Herz verrücktspielt, und sie will ja alles von ihm wissen. Übel wird ihm. Die Augen fallen ihm zu. Nach einer Weile räkelt er sich, blinzelt. Augenblicklich gefriert sein Körper zur Straßenpantomime: Ein Mädchen hockt bei ihm, ist ihm nachgerannt.

Es ist Marlen. Ihr grüner Haarreif! Wenn ihn die Wortführer der Jungs in der Stunde erbeutet haben, sind sie ganz wild aufs Pfänderspiel in der Pause. Sie fordern einen Kuss, den sie aber nicht kriegen. Wolf denkt an seine nasse Hose, möchte direkt durch den Erdball fallen, am besten bis Neuseeland. Er zuckt zusammen, als sie ihm die Hand auf die Schulter legen will. Sie lässt ab von ihm, flüstert: Die sind gemein! Er strafft seine Kiefer, zieht seine Pobacken zusammen, spürt seine Hoden, die sich heben, er streckt sich wie ein Pfeil, alles spannt sich in ihm, er ist zur Flucht bereit. Marlen sitzt ihm im Weg. Seine Augenlider flattern, er schnappt nach Luft.
Willst du meinen Haarreif? Sie streckt ihren Kopf vor wie eine Schwänin. Wolf bleibt stumm. Er kaut auf seinen Lippen. Marlen rückt neben ihn. Wolf? Stille. Kannst mich einfach anfassen, nur so. Er guckt ihr in die Augen, graublau – doch, das sieht er – blickt wie ertappt über sie hinweg. Entkrampft sich, die eine Hand zuerst. Wolf lenkt sie in Zeitlupe über die Schwelle seiner Jeansnaht, hält den Atem an, und legt seine Hand auf die andere Jeans neben ihm, mit leichtem Zittern. Ruht dort.

Denkt jetzt an Zuhause. Er würde sich nachher sofort umziehen, bevor die Mutter von der Arbeit käme. Im letzten Keller würde er hinter seine elektrische Eisenbahn kriechen, dort herumbasteln, sie sollte ihn rufen, viele Male. Und heute würde er seinen Kopf nicht in ihren Schoss drücken lassen, wenn er aus der Schule erzählte. Heute nicht. Niemals mehr.

Wolf? Marlens Stimme lockt ihn. Seine Hand gleitet ab von ihrem Oberschenkel. Sie führt sie unter ihren Pullover. Dünne Wäsche trägt sie, nichts Geripptes wie er. Seine Finger tasten die fremde Haut hinauf, wissen nicht wohin. Wolf, sag mal was! Er hat aber keine Wörter. Macht eine Faust, reißt seinen Arm zu sich. Mit Wucht stößt er den Ellenbogen in ihre Rippen, sie heult auf. Wolf packt seine Tasche, aus dem Stand jagt er die Straße hinauf.

Wolf ist schon weit oben. Auf dem alten Deichweg, das ist er, sein Gerenne kennt die ganze Schule. Aber er ist auch einer der Besten in der Staffel und auf den langen Strecken. Marlen tut es weh, wenn sie atmet, aber wohl nichts angeknackt. Behutsam versucht sie, den dumpfen Schmerz zu ertasten. Dann wischt sie mit beiden Handrücken über ihre Augen, wuschelt das Haar zurecht, steckt sorgsam den Reif an seinen Platz, zuletzt zupft sie den Pullover zurecht.

Schon vor der ersten Stunde weiß der halbe Schulhof anderntags, welchen Spaß es an der Bushaltestelle gegeben hat. Vom Transformatorhäuschen nichts. Wolf fehlt an diesem Morgen. – Marlen trägt keinen Reif. Ein paar Nadeln aus der Schublade ihrer Mutter hat sie benutzt.

Das fällt nicht auf, denn diesmal kämpfen die Jungs nicht um Marlen, sondern eine Traube schwarz-blauer Jacken hängt um ein Smartphone. Auf dem Display zuckelt eine Partyszene, zwei legen sich aufeinander. Eifersüchtelnde Kommentare. In einer Endlosschleife immer wieder die gleichen Bilder. Sie wiehern vor Schaulust, rücken ihre Jeans zurecht. Und denken nun doch an Marlen. Man spielt sich Vermutungen zu, wer von ihnen sich bald als endgültiger Besitzer des Haarreifs brüsten könne. Als sie zu Marlen hinüberblicken, können sie es kaum glauben: Heute trägt sie ihre Haare fest zusammengesteckt. Im Vorbeigehen wird sie angefrotzelt: „Na, welcher Macker hat deinen Reif?“ Sie zischelt zurück, irgendwas mit „blöde Ochsen“.

In der Pause spielen die Jungs Fußball. Neben dem Unterstand aus Wellblech, der die Fahrräder schützt, gibt es einen breiten Streifen Asphaltkies, da kicken sie sich den Schulfrust raus. Ein paar Sporthasser treten Kieselsteine gegen die Räder. Die Mädchen stellen sich in immer gleichen Grüppchen zusammen, kichern, zeigen sich Sachen, lassen die Jungs nicht ran. Marlen schließt sich ihrer alten Schulhof-Clique an, zwei, drei kehren ihr die kalte Schulter zu wegen der Geschichten mit dem Haarreif, die anderen aber lassen sie hinein in den Kreis. Als Bobba mit einem seiner Freunde vorbeistrolcht und versucht Marlen anzumachen, drängt sie sich dichter an die Mädchengruppe. Die Jungs lassen unter ihren Fäusten die Blechwand dröhnen.

Sie spürt einen Kloß im Hals, als die Klassenlehrerin nach Wolf fragt. Nein, niemand hat eine Ahnung, warum er fehlt. Was manche vom Bushäuschen wissen, gehört nicht hier her. Sie wollen so etwas nicht diskutieren wie neulich im Ethikunterricht. Einer hatte sich verplappert und berichtete, wie er vor kurzem in der Halfpipe dumm angelabert worden war. Respekt war das Stundenthema. So was sollten sie unter sich abmachen, hatte der in der Bomberjacke später auf dem Flur gewarnt.

Nachmittags ist Marlen beschäftigt. Sie probiert ihren Haarschmuck durch, denn das mit den Nadeln gefällt ihr überhaupt nicht. Den grünen Haarreif hatte sie gestern sofort im Karton mit den alten Puppen und Briefen verschwinden lassen. Der rote mit dem Sternenmuster, nein, zu kindlich. Gelb ist nicht ihre Farbe, schwarz gefällt ihr, doch zu traurig. Ein blauer Haarreif liegt noch in der Schublade, Geschenk einer Freundin, mit der sie nicht mehr zusammen ist. Vielleicht der regenbogenfarbene? Still schimpft sie auf ihr Dunkelblond, Straßenköterfarbe. Haarreife machen sie einmalig, hatte sie entschieden, keine sonst in der Klasse trägt sie. Strähnen wären noch besser, sie seufzt, aber ihre Mutter hatte neulich dazu schon den Kopf geschüttelt. Marlen war daraufhin in ihr Zimmer gestürmt, die Tür knallte zu. Es hatte nichts genützt, ihre Mutter blieb bei ihrer Meinung. Sie schlug stattdessen vor, die Haare doch mal nach hinten zu binden. Marlen wollte noch immer ihre Strähnen. Aber heute kann sie sich auch einen Zopf vorstellen. Sie probiert vor dem Spiegel ein zwei Haarbänder durch, die sie in ihrem Nachttisch findet, wählt schließlich das unauffällige schwarze Band, das die Haare deutlich nach hinten strafft. So sieht ihr Gesicht entschlossener aus, findet sie. Das gefällt ihr.

An den nächsten Tagen steckt Marlen eng mit ein paar Klassenkameradinnen zusammen, nichts mit Jungs. Nicht ganz: Wolf wurde krank gemeldet, irgendwas mit dem Herzen, berichtet die Klassenlehrerin, und dass alles davon käme, weil er zu viel renne, so habe die Mutter am Telefon gesagt. Die meisten grinsen. Marlen nicht.

In der Pause springt sie ins Schulbüro, fragt nach der Telefonliste ihrer Klasse. „Datenschutz“ wehrt die Sekretärin ab. Ach so, sie wolle nur ihre Nummer überprüfen, dann ja. Sie überfliegt die Eintragungen, nickt, bedankt sich. Draußen schreibt sie die Zahlenreihe säuberlich mit dem Kugelschreiber in die Handfläche.

@ hertz

Die Fortsetzung findet man demnächst in einem Jugendroman mit dem Titel "Wolfsangst".