Kuhlenmacher

 

Der Kuhlenmacher


Die roten Gummistiefel gucken oben raus. Der Mann, der dazu gehört, klemmt rücklings fest und brabbelt vor sich hin. Ab und an fuchtelt er mit den Armen, da winke einer aus dem Grab, könnte man meinen. Ist ja auch so. Kalle Kuhlenmacher hat es erwischt. Der Schnapsflasche ist mit hinein geplumpst. Zwei Helfer einer Steinmetzfirma retten beide, Kalle und Korn. Normalerweise reicht so eine Flasche für die komplette Arbeit: Je tiefer die Grube desto niedriger der Pegel. Diesmal muss noch ein weiterer Meter gegraben werden, während der Flüssigkeitsstand fast auf null steht. Sie haben ihn auf das Bänkchen neben der Eibe gebracht, auf die drei schmalen Sitzleisten passt nur etwas mehr als sein Steißbein, Kalle fängt sein überhängendes Gewicht mit dem Spaten ab, döst vor sich hin. Durch das aufgeregte "Twett, twett, twett" einer Vogelstimme wird er wieder klar. Es humpelt bloß die Witwe Schaper vorbei, "na, Kalle, ’n kleines Nickerchen?" Der Kuhlenmacher gräbt weiter, Ströme von Schweiß vergießt er, dutzende von Flüchen fahren in die Grube. Beinahe vergisst er eine Planke vom Grabverhau, auf so neumodischen Kram steht er sowieso nicht. "Vorschrift!", lernte er vor ein paar Jahren. Das Wichtigste ist die richtige Schaufeltechnik, hatte sein Vorgänger ihm beigebracht: "Du musst ein zwei Meter tiefes Grab ausheben, ganz allein, das ist unheimlich anstrengend." Bei protzigen Särgen geht man oft weiter hinunter: "Du schmeißt die Erde rauf, sie rutscht sofort zurück in die Kuhle."
 
Im Grunde stünde ihm ein zweiter Mann zu, wenn er so weit unten arbeitete, davon wollten ihn mal besorgte Angehörige überzeugen, jedenfalls bei ihnen Zuhause auf dem Friedhof wäre das so. Mit dem 12-Uhr-Läuten hat Kalle das Grab ordentlich gebaut, die geriffelten Aluminiumstege glänzen silbern im Sonnenlicht. Matten aus Kunstgras hüllen den Erdaushub ein. Lieber würde er Rasenschnitt mit Sand vermischt nehmen, ist leider nicht Vorschrift.
 
Mittagspause. Der Kuhlenmacher verkriecht sich in seinem Schuppen, hinter den Geräten ist ein Bretterverschlag. Es sieht hier nach Wohnküche aus, lauter Sachen vom Sperrmüll, auf das quietschgrüne Sofa ist er besonders stolz. Sogar ein Gasöfchen zum Heizen. Nur der Kocher stammt aus dem Supermarkt. Für das Bier gibt es ein Loch in der Erde, wegen der Kühlung – und man merkt nicht gleich, wo die Flaschen sind. Ab und an schläft er hier, wird gemutmaßt. Den Leuten gruselt es, wenn sie daran denken, auf dem Friedhof eine Nacht zubringen zu sollen. Die vom Amt drücken drei Augen zu. Wer sonst im Dorf will schon der Totengräber sein?
 
Es gilt es als ausgemacht, dass die Angehörigen dem Kuhlenmacher für ein schieres Grab morgens eine kleine Flasche Weizenkorn zum Schuppen tragen. Das offizielle Geld kriegt er später als "Fallpauschale" überwiesen. Den Papierkram erledigt der Bestatter für ihn, ausgefüllt werden muss ja immer irgendetwas. Der legt meistens bei jeder Beerdigung zehn Euro drauf, damit der Friedhofsarbeiter sich Mühe gibt. Selbst für weitere Euros ist es bislang niemandem gelungen, den Kuhlenmacher von seinen roten Stiefeln abzubringen. Da bleibt er taub. Er habe sie geerbt, mutmaßt man im Dorf, von seiner Mutter. Ihre Schuhgröße hat er nicht geerbt, das ist hundertprozentig sicher.
 
Kuhlenmachers Einsatz nach der Zeremonie sieht einfacher aus als die Arbeit vorher. Es ist jedoch eine ungesunde Bewegung, strapaziert den Rücken. Er muss auf das linke Bein aufpassen, das nicht ganz in Ordnung ist. Er nimmt sich Zeit, entfernt den Verhau, schaufelt sorgsam das Grab zu, baut den Hügel auf. Zuletzt die Schlepperei mit den Aluminium-Planken, die müssen in den Schuppen. Die richtige Anordnung der Kränze ist Sache des Bestatters, der zieht auch die Schleifen glatt. Eigentlich wäre Feierabend. Er trödelt gerne auf dem Friedhof herum, beobachtet die Angehörigen, wenn sie im Anschluss an die Kaffeetafel zum zweiten Mal am Grab stehen, sagt hier und dort "Herzliches Beileid!" Die Altbewohner des Dorfes wissen Bescheid und halten eine Kuchentüte vom Leichenschmaus für ihren Kuhlenmacher bereit.
 
Der Kuhlenmacher heißt gar nicht so mit richtigem Namen, auch sein Vorname ist erfunden, "Kalle" klingt so vertraut, in jedem Dorf gibt es einen "Kalle". Der rundliche Mann, der jetzt die Gräber schaufelt, lebt in eine Wohnung der Gemeinde, seit er volljährig ist. Er ist der Sohn des "Flüchtlingsmädchens", wie manche im Dorf bis heute noch sagen, seine Mutter eine ledig gebliebene Magd. Über seinen Vater, den Bauern der Magd, wird hinter vorgehaltener Hand dies und das erzählt. Auch dies, dass er Kalles Mutter insgeheim überaus gernhatte und den Jungen mit seinen eigenen Kindern aufwachsen ließ. Kurz bevor die Feste des Dorfes im Alkohol ertrinken, schwelgt man in intimsten Einzelheiten, jedes Mal den gleichen. Kalle tut nach außen so, als ob ihn das Gerede nichts angehe.
 
Wenn er mit dem Rad im Dorf unterwegs ist, brüllen ihm die Jungs hinterher: "Kalle, dein Holzbein klemmt!" Sie hänseln ihn schon immer so. Dabei ist sein linkes Knie nur schwergängig, ein Unfall auf der Straße in der Schulzeit, seine Radfahrtechnik blieb darum eigentümlich und sieht komisch aus. Auch zwei linke Hände habe er von Jugend auf gehabt, heißt es, angeblich habe die Bäuerin mal verlauten lassen: "So einer nützt nichts auf dem Hof. Da ist mein eigener Sohn ein ganz anderes Kaliber."
 
Der Bauer kümmerte sich ab und an um Kalle, der Unfall veränderte ihn. Irgendetwas im Kopf, ein bisschen schwer von Kapee. Wer weiß das alles. In der Klasse schwächelte er gewöhnlich. Der Bauer schickte ihn nach der Schulzeit als Lehrling auf den Friedhof, wo er was Nützliches lernen sollte. Mit Erfolg. Als der alte Kuhlenmacher nicht mehr konnte mit seiner Kriegsverwundung an der Schulter und seinen gichtigen Gelenken, übernahm der neue Kuhlenmacher. Auf dem Friedhof müssen seine linken Hände in Ordnung gekommen sein, er schafft sein Pensum wie der Vorgänger. Einschließlich der Flasche Korn, "hilft gegen den Gestank", hatte sein Lehrherr gesagt. Dabei klappt die Verwesung auf dem Dorffriedhof recht gut, der Boden ist relativ trocken, man hat es kaum mit ganzen Körpern zu tun, die schlimm riechen. Kalle Kuhlenmacher wuchs in die Rolle hinein, sein Taillenumfang wuchs mit.

©  hertz

Mehr über den Kuhlenmacher im Erzählungsband "Männer auf Achse"