Josie

Josie

Er sucht das Meer, endet am Drahtzaun, dahinter Schafe in schmuddeliger Wolle. Dies muss der falsche Parkplatz sein. Ein Spaziergänger taucht im Nebel auf, weist ihm vage den Weg. Er tastet sich mit dem Auto durch die unsichtbare Landschaft, dann ist er da. Erst einmal ans Wasser, die Stufen der Steintreppe hinauf, wallendes Grauweiß verschluckt ihn oben auf der Deichkrone. Er atmet Lungen voll Meer.

Im Hotel. "Seeblick", so stand es auf der Internetseite. Man würde sehen. Zuerst ein Steak und ein paar Biere vor Tagesschluss. Das Bett ächzt unter seiner Last, er wälzt sich schwerfällig, gewaltsam träumt er die ganze Nacht leer. Zwei-, dreimal muss er aufstehen, findet keinen Lichtschalter, seine Füße scheuen die groben Noppen des Sisalläufers, er rammt Kleiderdiener und Telefontischchen auf seinem Weg zur Toilette, das wird blaue Flecken geben. Später erwacht er endgültig, noch immer nicht die richtige Zeit, die Hose seines Pyjamas strafft sich ganz ohne Morgendrang, was ihm gut tut, einfach nur so, ohne Frau in der Nähe. Viele Minuten liegt er still, freut sich an diesem Erlebnis wie an einem unverhofften Geschenk. Dann klingt die Spannung ab. Er steht auf, lehnt sich ans Fenster.

Die Flut hat scharfe Luftmassen vor sich hergeschoben, die den Nebel zu dünnen Schwaden zerrieben haben. Der Mond rollt auf luftigen Wolkenfeldern: Caspar David Friedrich fällt ihm ein. Dann jedoch Annabelle. In einer Pause des Sportlerballs waren sie ins Feld hinein gehastet, Halme und Ähren drückten sich in die empfindlichsten Partien des Körpers, er hätte sich eher eine Isomatte gewünscht als den Mond in jener Nacht. Das war ihre Verlobung, sozusagen. Den letzten Brief ihrer Anwältin hatte er beim Packen rasch noch im Koffer unter die Wäsche geschoben.

Draußen auf See sind Lichter zu sehen, grüne und rote, zwei, drei Schiffe, wie war das gleich mit Backbord und Steuerbord? Sie bewegen sich, die Fahrt geht aufs Meer. Das dünne Mondlicht bricht sich tausendfältig auf den Wellenkämmen. Lockt.

Er beschließt den Tag offiziell zu eröffnen und tapst ins Bad. Er denkt eine Weile an nichts, als er auf der Toilettenschüssel hockt, zählt die Fliesen, Zwölfermaß, schätzt er, eine Wand mit 26 Reihen und 18 Fliesen hoch. Die Kacheln sind im Stil der 70er Jahre, angeschnittene Kreise in braun und orange, so ein ähnliches Muster trug die Vliestapete im Elternhaus. Es kommt ihm die Sammlung von Rockballaden in den Sinn, die über der HiFi-Anlage im Regal gestanden hatte, viel Peter Maffay dabei, den Namen lernte er irgendwann.

Seine Mutter schmolz dahin, wenn der Sänger sein "Josie, Josie" raunte. Als Kind rätselte er über den Sinn solcher Lieder. Unter dem prickelnden Wasser hätte er gern ein paar jener schmachtenden Melodiefetzen gesummt, bekommt die Töne nicht zusammen.

Abreise. Soll es eine geben? Der Termin des Tages kann verschoben werden. Er könnte anrufen, ein Infekt, Magen-Darm, das Übliche, ja, etwa zwei Tage, denke ich, danke, ich passe schon auf, melde mich wieder...

Eine halbe Stunde später das Frühstück, keine Offenbarung. Dann den Deich hinauf, das Wasser ist zurückgewichen, der Schlick glänzt matt unter einem hell geschieferten Himmel. Der Geruch von gestern Abend ist wieder da, darunter verborgen ein dünner fauliger Hauch. Er spürt winzige Körnchen Salz auf seiner Zunge, wenn er sich die Lippen leckt.

Schon gestern Nacht hatte die Weite ihm imponiert, und vorhin, als er auf das Frühstücksei wartete, hatte er dafür eine Beschreibung parat, wunderbar geeignet für eine Ansichtskarte. Wem sollte er sie schreiben? Die glatten Wörter sind ihm jetzt entfallen, stattdessen taucht vor ihm das Pyjama-Erlebnis des frühen Morgens auf, wie ein Pop-up-Fenster auf dem Computer. Kein Thema für Grußkarten.

Leicht missgestimmt steigt er zum Parkplatz hinunter, gerät mit seinen Stadtschuhen ins Rutschen, verdreht dabei seinen Körper, was schmerzt. Er zwängt sich ziemlich mitgenommen ins Auto, kramt nach dem Handy in seinem Jackett und führt dann das Telefonat, das längst schon fertig im Kopf liegt. Er ist ein wenig enttäuscht, denn es ging leichter als erwartet. Man wünscht ihm gute Besserung und würde alles Nötige veranlassen.

Er setzt sich ans Steuer, fährt in die Stadt, kauft einen Rucksack, Regenzeug, warme Sachen, eine Thermoskanne, eine Brotdose und natürlich ein Paar Schuhe mit rutschfesten Stollen. Im Hotel spricht er eine Nachricht auf einen Anrufbeantworter irgendwo weit im Süden, bestellt belegte Proviantbrote und bittet um Streichhölzer, er hat in einem Film aufgeschnappt, dass sie zur Ausrüstung gehören. Danke, eine Karte brauche er nicht. Er packt seine Sachen, zieht sich um. Los geht’s.

Ihn stört der Autoschlüssel in der Hosentasche.Am breiten Rückstaubecken lässt er das Etui mit dem Firmenlogo in elegantem Schwung über die Wasserfläche ditschen, das haben sie als Jungs damals mit den flachen Kieseln gemacht. Dann sieht man noch, wie er beim alten Deicharbeiterhäuschen ein Dutzend Lachmöwen vor sich herscheucht. Sie tragen schon ihr helles Winterkleid.


@ hertz